Fortsetzungsroman: Erwählte des Zwielichts 2
Iloyon spähte aus dem Graben heraus zu dem Wäldchen, in dem sich das Elfenheer sammelte. Geflügelte Shir‘ianatha waren bei ihnen, auch einige Menschen. Er hatte gehört, wie sie Pläne schmiedeten, um sein Volk von den letzten Quadratfuß Boden zu verjagen, die sie in diesem Landstrich noch hielten. Und jeder Quadratfuß musste mit Blut bezahlt werden.
„Rückzug“, murmelte Iloyon. „Wir müssen uns neu formieren und noch einmal von vorn anfangen.“
„Von vorn? Schon wieder?“ Amayas‘ schlanke Hände krallten sich so fest in seine Schultern, dass Iloyon ein Aufstöhnen unterdrücken musste. Seine Muskeln waren angespannt, unter der festen Berührung fühlten sie sich an wie rohes Fleisch.
„Noch einmal. Ja. Es geht so nicht weiter. Jedes bisschen Boden, das wir gewinnen, nehmen sie uns einen Tag später wieder ab. Für jeden, der auf ihrer Seite fällt, fallen auf unserer Seite zwei oder drei.“
„Das letzte Mal haben wir sie geschlagen“, erinnerte Amayas ihn, aber Iloyon hörte ihm kaum zu. Es war alles sinnlos. Einen Tag siegte das Licht, am nächsten die Dunkelheit. Manchmal errangen sie zwei oder auch drei Siege in Folge, aber eine gewonnene Schlacht, das hatte er sehr schnell gelernt in den wilden Wäldern, war noch lange kein gewonnener Krieg. Er biss sich auf die Zunge, um Amayas nicht noch mehr zu erzürnen.
„Schaffst du es eine Weile allein hier? Ich sehe nach Cianthara. Ich will versuchen, sie dazu zu bringen, sich ein wenig auszuruhen. Vielleicht wird sie vernünftig, wenn sie sieht, dass auch ich vernünftig werde.“
Amayas lächelte. Er umfasste mit festem Griff Iloyons Unterarm und drückte ihn leicht.
„Löse mich im Morgengrauen hier ab, du siehst tagsüber besser als ich.“
„In Ordnung. Pass auf dich auf, Bruder. Ich sage denen im Lazarett, dass sie euch heißen Tee bringen sollen.“
„Danke. Und jetzt verschwinde endlich!“
Iloyon kletterte aus dem Graben. Einige Male rutschte er auf dem feuchten Schlamm ab und wäre beinahe gestürzt – er war müder, als er vor Amayas eingestehen wollte. Langsam schleppte er sich zu den geschützt zwischen den Bäumen aufgebauten, mit Geäst und Blattwerk getarnten Zelten hinüber. Wer nicht wusste, wonach er suchen musste, konnte das kleine Dunkelelfenlager leicht übersehen. Iloyon nickte zufrieden. Seine Befehle wurden noch ausgeführt, auch wenn er ahnte, dass es vielen seiner Kundschaftertruppe ging wie ihm. Die Männer und Frauen waren erschöpft, sie hatten seit Wochen kein sauberes Bett, kein heißes Bad und kein vernünftiges Mahl gesehen, trockene Kleidung hatte kaum jemand mehr. Sie alle waren müde. Kriegsmüde. Iloyon lehnte sich an einen Baum und schaute zum Lazarettzelt hinüber. Sein Vater hatte bereits in diesem Krieg gekämpft und vor ihm sein Großvater. Beide waren gefallen. Erinnert sich überhaupt noch jemand, warum wir kämpfen? Um was? Licht gegen Dunkel, Tag gegen Nacht, wofür?
Er biss sich auf die Lippe, stieß sich vom Baum ab und trat mit festen Schritten auf das Lazarettzelt zu. Den Wachen am Eingang nannte er das Losungswort, dann kroch er durch die schlammigen Planen in das Innere. Hier war es leidlich behaglich, Feuerschalen brannten und vertrieben die Kälte, der Duft von Kräutern und Tee hing in der Luft. Darunter nahm Iloyon den anderen Geruch wahr, den metallischen Geruch frischen Blutes, den schweren, süßlichen Geruch von Krankheit und den erstickenden Atem nahenden Todes. Leben. Und Tod. Sie lagen ganz dicht beieinander an diesem Ort. Iloyon schloss die Augen.
Er lag auf einer der Pritschen, halb ohnmächtig vor Schmerz, der in seinem linken Arm tobe, es fühlte sich an, als würde ihm der Arm bei lebendigem Leibe ausgerissen. Etwas Warmes klebte auf seiner Haut, Blut, der Gestank stieg ihm in die Nase, er spürte den Geschmack auf der Zunge, spürte, wie er ihm in den Rachen kroch, die Lunge hinabstieg. Er würgte, hustete. Sanfte Hände berührten ihn, eine leise, ruhige Stimme sprach auf ihn ein. Noch mehr Hände, sie hielten ihn fest. Ein letztes Mal explodierte der Schmerz in seinem Arm, er hörte sich selbst schreien. Und dann: nichts mehr.
„Iloyon? Tien’sha?“
Er zuckte zusammen. Eine schmale Gestalt schmiegte sich an seine Seite, legte einen Arm um seine Taille und den Kopf an seine Schulter. Schwarzes Haar streichelte seine Wange. Er lächelte und schloss die Augen, sanft strich er über das seidige Haar. Tien’sha. Geliebter. Sie nannte ihn selten so, hier draußen.
„Cianthara. Amayas sagte, ich solle mich ausruhen. Und ich habe ihm gesagt, dass ich nur dann in meine Felle krieche, wenn ich es schaffe, dich mitzunehmen. Wie geht es ihnen?“ Er spähte zu den Felllagern, auf denen seine Kundschafter lagen. Die fünf, die so schwer verwundet worden waren, dass sie im Lazarett bleiben mussten. Einen von ihnen hatten sie mit letzter Kraft hierher geschleppt und Iloyon wusste nicht, ob er überleben würde oder nicht.
„Besser. Auch Veannan. Er, Naeve und Dirion sollten noch eine Weile hierbleiben, die anderen können vielleicht morgen Abend schon wieder hinaus.“
„Können. Aber sollten sie auch?“
„Sie werden es müssen, nicht wahr? Jeder, der aufrecht gehen und eine Waffe festhalten kann, sollte …“
Iloyon schüttelte den Kopf.
„Ich will, dass wir uns zum Heerverband zurückziehen. Eine andere Kundschaftergruppe muss hier übernehmen. Ich werde es nicht zulassen, dass ihr euch alle aufreibt bei diesen sinnlosen Scharmützeln.“
Ciantharas Augen weiteten sich. Das Dunkelrot der Iris wirkte beinahe orange, ein Zeichen dafür, wie erschöpft sie war und wie sehr sie ihre Heilergabe überanstrengt hatte. Nur wenige Dunkelelfen konnten heilen, und die wenigen, die es konnten, waren beim Heer angesehen und kostbar wie Gold. Jede Einheit stritt sich um die wenigen Heiler. Iloyon war froh, dass er Cianthara hatte. Und dennoch wünschte er sie im Moment weit weg, an einen Ort, an dem es sicher war. Wo sie leben konnte, einfach nur leben. Ohne diesen verfluchten Krieg, der so endlos schien.
„Was sagt Amayas?“
„Er ist dagegen. Das war mir klar – aber wir müssen etwas tun. So kann es nicht weitergehen. Ich werde morgen bei Tag den Rat einberufen. Aber zuerst … komm mit. Lass uns ausruhen. Wenigstens eine Weile. Du musst sie den anderen überlassen.“
„Ich weiß. Rhian ist schon wütend auf mich. Sie wird sich freuen, wenn ich ihrem Befehl endlich folge.“ Cianthara nickte einer Dunkelelfe zu, die über ein Bett gebeugt stand und einen Verband wechselte.
„Du sagtest, du kommst eine Weile allein zurecht, Schwester?“
Rhian nickte, Iloyon sah die Erleichterung auf ihrem schmalen, beinahe verhärmten Gesicht.
„Geh schlafen. Geht beide schlafen. Wir brauchen euch noch.“
Iloyon sah Cianthara an, dass sie Rhian am liebsten dasselbe gesagt hätte. Er drückte kurz die Hand der Heilerin, dann trat er an Rhians Seite und schaute auf Veannan hinunter. Sein Gesicht war so bleich, dass es beinahe grau wirkte, die Wangen eingefallen. Feine Schweißtropfen standen auf seiner Stirn. Um die linke Schulter des Schwertkämpfers schlang sich ein bereits durchgebluteter Verband. Rhian sah auf.
„Er wird durchkommen. Wenn er sich ausruhen kann.“
„Wir werden ihn tragen müssen, wenn wir weiterziehen?“
Rhian nickte. Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht. „Danke, Heerführer.“
„Wofür?“
„Für den Abmarschbefehl. Ich kann es kaum erwarten, aus diesem Dreckloch herauszukommen.“
„Es geht uns allen so. Wir alle sind am Ende.“
Rhian nickte wieder. Iloyon spürte ihren Blick, der sich tief in seinen senkte. „Du glaubst doch auch, dass dieser Krieg sinnlos ist.“
Er sagte nichts, aber er sah in ihren Augen, dass sie seine Zustimmung erkannte.
„Sieh zu, dass möglichst viele morgen reisen können. Ich will nicht weiter als bis zum Traverranpass. Fünf Nachtmärsche.“
„Ich tue, was ich kann, Heerführer.“
„Ich weiß.“
Die Felle waren ihm lange nicht so einladend erschienen. Iloyon schnürte die Zeltklappe hinter sich zu, dann streifte er seine Stiefel ab und ließ sich rücklings auf sein Lager fallen. Cianthara hatte sich bereits auf den Fellen ausgestreckt, auch sie war noch vollständig angezogen bis auf ihre Schuhe. Man konnte nie wissen, wann die Rufhörner der Wachen einen aus dem Bett warfen. Iloyon seufzte und zog Cianthara an sich. Sie schmiegte sich an ihn, ihre schmalen Finger zeichneten die Konturen seines Gesichts nach.
„An was hast du gedacht, als du ins Zelt gekommen bist?“
„An mich. An dich. Die Nacht, als ich dich kennengelernt habe. Als du diesen Lichtelfenpfeil aus meiner Schulter gezogen hast. Ich habe mich daran erinnert, wie verflucht weh das getan hat, was für eine Angst ich hatte und dass du es warst, die mich dazu gebracht hat, nicht wegzurennen, als ich es wieder konnte. Ohne dich wäre ich jetzt nicht da, wo ich bin.“ Er küsste ihr nachtschwarzes Haar.
„Du standest schon auf der Schwelle. Ich war mir sicher, du konntest die ewige Dunkelheit schon sehen.“
„Mehr als das.“ Iloyon vergrub das Gesicht in Ciantharas Haar und atmete tief den vertrauten Duft. „Ich habe meinen Vater gesehen. Meinen Großvater, die beide in diesem Krieg ihr Leben ließen. Sie sahen mich an und dann schickten sie mich wieder fort. Es war, als ob sie mich einfach noch nicht bei sich haben wollten. Aber ich wollte in dieser Nacht nichts als sterben.“
„Aber das wollte ich nicht.“ Cianthara löste sich aus seiner Umarmung und küsste ihn sacht auf die Lippen. Iloyon lächelte unter dem Kuss, dann erwiderte er ihn, zart erst, dann hungrig und voller Leidenschaft. Er wollte diesen Moment auskosten, diesen winzigen Augenblick, in dem er sich zwischen all dem Kämpfen und Sterben lebendig fühlte. Er wehrte sich nicht, als Ciantharas Hände begannen, an seinen Kleidern zu zerren. Er ließ zu, dass sie ihn aus dem verdreckten schwarzen Leder schälte, streifte auch ihr Hemd und Hosen ab und atmete erleichtert auf, als er ihre Haut an seiner spürte. Warm und lebendig, ihr Herzschlag an seiner Brust, ihre Hände in seinem Haar, sie lösten seinen Zopf, wanderten über seinen Rücken. Eng umschlungen sanken sie auf die Felle und vergaßen für einen Augenblick den Krieg. In diesem Augenblick feierten sie das Leben.