Fortsetzungsroman: Erwählte des Zwielichts 4
Er streifte sich seine Kleider über, wartete, bis auch Cianthara sich etwas angezogen hatte, dann öffnete er die Zeltplane und sah hinaus. Der Morgen dämmerte. Über den Bäumen färbte der Sonnenaufgang den Himmel rot. Bald würde es zu hell für die meisten seines Volkes sein. Nur wenige konnten das Licht der Sonne lange ertragen, und kein Dunkelelf würde es wagen, zu lange ohne die halbdurchsichtigen schwarzen Augenbinden in ihrer Ausrüstung in der Sonne zu sein. Und doch brauchte die Welt das Sonnenlicht. Genauso wie sie die Dunkelheit und die Stille der Nacht brauchte.
Cianthara schob sich neben ihn in den Zelteingang und spähte ebenfalls hinaus. „Es geht nicht“, sagte sie leise. „Licht gegen Dunkel. Dunkel gegen Licht. Wie kann eine Seite denn siegen, wenn das eine immer wieder aus dem anderen entsteht?“
Iloyon zog sie an sich. „Du sprichst meine Gedanken aus, Tian’sha. Du sagst, was ich kaum zu denken wage. Und ich würde sogar noch weitergehen.“
Sie sah ihn an. „Es ist nicht nur so, dass keine Seite gewinnen kann, nicht wahr? Es ist so, dass keine Seite gewinnen darf.“
Iloyon neigte den Kopf. Er musste nichts sagen. Sie würde wissen, dass er dasselbe dachte.
„Was willst du tun?“
Er lachte, bitter und trocken. Was will ich tun? Was kann ich denn tun? Einer allein. Vielleicht mit ein paar wenigen Getreuen, die zu mir stehen, weil sie genauso denken. Aber was können wir tun? Kämpfen? Fliehen? Und dann? Wie können wir nicht kämpfen, wenn um uns herum unser Volk stirbt? Wie können wir das?
„Ich weiß es wirklich nicht.“
Cianthara blieb an ihn geschmiegt sitzen. Gemeinsam beobachteten sie, wie die Sonne höher stieg und das Sonnenaufgangsrot zuerst zu Kupfer, dann zu Gold verblasste, bis schließlich nur noch ein feiner heller Streif zu sehen war. Aus der Ferne hörten sie den Gesang des lichten Heeres, das den Tag begrüßte, während die Dunkelelfen in ihre Zelte krochen oder die schwarze Binden vor ihre empfindlichen Augen schlangen, um den Tag über zu wachen und die anderen zu schützen.
„Wenn sie angreifen, dann am Tag. Sie wissen, dass wir schwach sind, und sie wissen, dass wir nur Kundschafter sind. Ich werde das Lager abbrechen lassen. Wir ziehen uns zurück, nach Norden. Zum Heerverband. Wir liefern unseren Bericht ab, und dann werden wir sehen, was wir tun können.“
„Dann sollte ich mich um das Lazarett kümmern.“ Cianthara zog ihre Stiefel an.
„Glaubst du, du kannst sie überzeugen?“
„Ich muss.“
Iloyon küsste Cianthara noch einmal, dann gingen sie schweigend zum Lagerfeuer, um sich Tee und trockenes Fladenbrot zu holen. Iloyon nahm einen Krug mit zum Graben.
Amayas und seine Wachen erwarteten ihn bereits. Iloyon reichte Amayas den Krug, er trank und reichte ihn weiter.
„Wir brechen das Lager ab.“ Iloyon ließ sich am Grabenrand nieder.
„Ohne Rat?“
„Ich habe die Befehlsgewalt, und ich sage, wir ziehen uns zurück. Seht zu, dass ihr ein wenig ausruht, dann packt eure Sachen zusammen. Ich will, dass alle spätestens heute Mittag abmarschbereit sind.“
Amayas runzelte die Stirn. „Heute Mittag? Du willst am Tag marschieren?“
„Ich will so schnell wie möglich hier weg. Hast du sie singen gehört, als die Sonne aufging?“
Amayas schnaubte. „Unsere Götter hören uns genauso, wie ihre sie hören.“
„Sie fühlen sich zuversichtlich. Sie werden angreifen, ich bin mir sicher. Und ich will, dass sie glauben, dass wir noch da sind, während wir schon einige Meilen weiter nördlich sind.“
„Eine Falle?“
Iloyon lächelte. „Ich wusste, dass dir das gefallen würde. Ich will, dass sie mit dem geräumten Lager genauso viel zu tun haben, als wären wir noch hier. Fallgruben, Stolperseile, Speerfallen, fliegende Pfeile aus dem Nichts. Bereitet so viel, wie ihr könnt, vor, und dann sehen wir zu, dass wir hier wegkommen. Ich rede mit den anderen.“
Amayas nickte. Sein fester Griff schloss sich um Iloyons Unterarm, dann umarmte er ihn. „Ich vertraue dir, Heerführer. Wenn du sagst, es ist besser zu gehen, dann gehen wir.“
Iloyon nickte ihm zu. „Danke, Bruder.“ Seine Fingerkuppen fuhren über die dünne Narbe in seiner linken Handfläche. Brüder in allem, nur nicht im Blut.
Eines Tages hatten sie beschlossen, das zu ändern. Ein scharfes Messer, ein Schnitt, ein fester Griff, ein Schwur. Sie hatten schon immer gespürt, wenn dem anderen Gefahr drohte. Seit diesem Tag wussten sie immer, wo der andere sich gerade befand, wie es ihm ging. Auch wenn sie nicht immer einer Meinung waren, sie waren Brüder. In allem. Auch im Blut.
II
Iloyon kniff die Augen zusammen und zog die Binde aus locker gewobenem schwarzem Stoff fester um seinen Kopf. Sein Blick streifte über die kleine Truppe, die ihm noch geblieben war, und die nun vor ihm versammelt stand und in die Sonne blinzelte. Hinter ihnen lag das Lager. Sie hatten einige Zelte zurückgelassen und mit Fallen gespickt, im Boden verbargen sich angespitzte Pflöcke und Fallstricke, niemand hatte sich die Mühe gemacht, die Gräben zuzuschütten, im Gegenteil. Sie waren als Fallgruben getarnt, ihre Böden mit Scherben, Spießen und spitzen Pflöcken übersät.
„Es wird sie nicht allzu lange aufhalten, sollten sie uns tatsächlich folgen. Aber was ihr getan habt, ist gute Arbeit. Haltet durch, so lange es geht. Wir müssen dem Heerverband berichten. Und das können wir nicht, wenn die anderen uns schon so nahe sind. Das Risiko, dass sie uns ganz und gar aufreiben, ist zu groß. Wir ziehen nach Norden, aber wir werden uns trennen, falsche Fährten legen und später wieder zueinander stoßen. Eine Hälfte geht mit Cianthara und mir, die andere mit Amayas. Cianthara und ich nehmen die Schwerverwundeten mit. Finden wir uns unterwegs nicht, treffen wir uns beim Lager des Heerverbandes. Seid ihr bereit?“
Naeve grinste ihn an. Sie hatte ein Auge verloren, trug noch einen blutigen Verband über der leeren Höhle und stützte sich auf ihren Kampfstab. „Kein bisschen. Aber alles ist besser, als hier von ihnen in den Boden getrampelt zu werden.“
Zustimmendes Gemurmel folgte den Worten der Kundschafterin.
Iloyon nickte. „Also gut. Teilen wir uns auf. Wir ziehen nach Nordosten, Amayas, ihr geht erst einmal nach Nordwesten. Wenn alles glattgeht, sehen wir uns an den Singenden Felsen und ziehen von dort die Küste entlang zum Traverran-Pass.“
Amayas nickte. Zügig wählte er seine Leute, die anderen scharten sich um Cianthara und Iloyon. Rhian, die Feldscherin, schloss sich Amayas an, damit jede Gruppe zumindest einen Heilkundigen dabei hatte, auch die beiden Kriegsmagier trennten sich. Sirisa schloss sich Amayas an, Tyuran blieb bei Iloyon. Iloyon war froh darüber. Er fühlte sich für den jungen Mann verantwortlich. Magisch hochbegabt oder nicht, ein halbes Kind wie Tyuran sollte in der Sicherheit der Gilde sein, er war viel zu jung, um in den Krieg zu ziehen. Doch Gerüchte behaupteten, um Tyuran vom Feld fernzuhalten, hätte man ihn festketten müssen, und auch dann hätte er sich freigezaubert. Er wollte kämpfen, also sorgte Iloyon dafür, dass er ein Auge auf den jungen Magier haben konnte, wenn er ihn schon nicht dazu bringen konnte, in Sicherheit zu bleiben.
Iloyon bemerkte, wie Cianthara mit sorgenvollem Blick auf die Trage sah, die Liandras und Malika hinter eines der wenigen Pferde gespannt hatten. Veannan war noch zu geschwächt, um selbst marschieren zu können. Mit dem Pferd würden sie schneller vorankommen, zumindest dort, wo das Buschwerk nicht zu dicht war. Der Kundschafter klagte nicht, aber Iloyon hatte seine Wunden gesehen und wusste, dass Veannan Schmerzen hatte, auch wenn er mehr Mohnsamen gekaut hatte, als für einen Mann gut sein konnte.
Zu spät, wir können nicht mehr zurück.
„Bereit?“
Die Truppe nickte wie ein Mann.